Leseprobe:
Die unverdächtigste Art des Nichtstuns
3:30 Uhr. Leise zieht sich Dieter Jedlitzke an. Die Frau schläft.
Schnellfrühstück - und ab geht's. Seit 50 Jahren geht das so.
Nicht jeden Morgen, aber immer wenn er Zeit hat; die Ruhe braucht. Denn
die Fische rufen. Das Fahrrad mit Hilfsmotor leistet gute Dienste bis
zur Talsperre. Es trägt die Angel, den Koffer mit allerlei Angler-Kleinkram
- und den Angler selbst. Hochleistung. Es ist noch dunkel als er ankommt.
Motor aus, Angel raus, Blinker oder Haken mit Tauwurm dran, und schon
landet das bewurmte Ende im Wasser. "Der Hecht ist schwer zu fangen,
den muss man überlisten." Kennerphilosophien. Der 69-jährige
hat selbst mal drei eigene Forellenteiche besessen. "Da waren bestimmt
fünf- bis sechstausend Forellen drin." Das klingt viel. Doch
die Hälfte aller Forellen wird des Nachts von Fischdieben gestohlen,
Kormoran und Fischreiher reißen sich einen weiteren Teil unter die
Kralle, und am Ende bleibt nicht viel übrig. Schluss. Aus. Keine
Teiche mehr. Stattdessen sitzt er lieber frühmorgens an seiner Versetalsperre
und wartet auf Karpfen, Hechte, Schleyen & Co. Und wartet. Und wartet.
Bis sich die locker auf der Wasseroberfläche abgelegte Angelschnur
spannt. Und das kann dauern. "Manchmal fang ich den ganzen Tag nichts.
Dafür hab ich am anderen Tag den Eimer voll." Angeln bedeutet
eben auch, stundenlang geduldig an einem Fleck zu lauern, bis man
nichts gefangen hat. Mal so, mal so. Größter Treffer in Jedlitzkes
50-jähriger Anglergeschichte: Ein 27,5 Pfund schwerer Karpfen. Hossa.
Aber warum angelt der Mensch? Besonders wenn man entweder nichts fängt
oder wie Dieter Jedlitzke noch nicht mal scharf auf Dauerfischmenueberieselung
ist? Das Geheimnis ist rasch gelüftet: Es sind vor allem Ruhe, Natur
und frische Luft. Und die befristete Einsamkeit. Die müden Gedanken
über die frühmorgendliche Wasseroberfläche schicken. Prasselnder
Regen spielt dabei nur eine sehr untergeordnete Rolle. Es geht um mehr.
Selbstmeditation. Tiefe Ruhe finden und leben. Die unverdächtigste
Art des Nichtstun belohnt mit positivem Lebensgefühl. Das ist das
ganze Geheimnis. Ein großartiges Geheimnis.
Doch was, wenn Schnee und Eis das Angeln strickt untersagen? Dann leidet
er, der Dieter Jedlitzke. "Wenn ich ein paar Wochen nicht am See
war, dann werd ich ganz kribbelig und unangenehm - sagt meine Frau. Dann
wird es wieder Zeit." Und wenn im Frühjahr zwischen 4:00 und
5:00 ein knötteriges Brummen über die Straßen schallt,
dann könnte es sein, dass ein älterer Herr mit Angel unterm
Arm auf einem untermotorisierten Zweirad davon fährt. Richtung Talsperre.
Seinem Lebensgefühl entgegen.
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