Leseprobe:
Die misshandelte Wohnung
Der blanke 'Horror' ist nichts anderes als ein auf Erfahrung beruhender, schreckerfüllter Schauder. Ihn sollten wir beim Betreten einer unserer Wohnungen mehrfach verspüren.
Wir schlagen dieses Kapitel im Buch der Mark Wohnungsgesellschaft mit dem Jahr 1995 auf. In diesem Jahr vermieten wir in einem 6-Parteien-Mietshaus in Lüdenscheid Eggenscheid eine öffentlich geförderte 100 Quadratmeter-Wohnung an eine Mieterin, die wir von nun an Petra M. nennen. Petra M. hat zwei Kinder. Die Wohnung scheint ideal. Und sie wird ausschließlich von Sozialamt gezahlt, weil Petra M. zahlungsunfähig ist.
Der ursprüngliche Zustand der Wohnung ist tadellos und besenrein. Das erste Mietjahr vergeht wortlos, und es beginnt das zweite Jahr in der Petra M. die Wohnung bewohnt. Erstmals melden sich bei uns nun einige Mieter des Hauses, um uns auf die chaotischen Zustände im Keller hinzuweisen. Dort stapelt sich der Müll der allein erziehenden Mutter. Was aber noch schlimmer scheint, ist der sonderbare Geruch, der zunehmend aus der Wohnung von Petra M. kriecht. Wir reagieren mit einem Anschreiben: "Die Mitarbeiter der Mark Wohnungsgesellschaft möchten von ihrem Wohnungsbegehungsrecht Gebrauch machen und turnusgemäß eine Überprüfung der Räumlichkeiten durchführen." Nichts! Keine Reaktion. Es folgen mehrere ultimative Anschreiben, doch erst das Schreiben unserer Rechtsabteilung bringt eine erste Antwort von Petra M.

Bis hierhin liegt bereits ein halbes Jahr Schriftverkehr hinter uns. Wir befinden uns mitten im Jahr 1997. Sommer. Mitarbeiter der Mark schellen bei Petra M., sie öffnet die Tür. Der sich bietende Anblick war nichts anderes als ein auf Erfahrung beruhender, schreckerfüllter Schauder. Horror. Verwahrlosung pur. Die Tapeten halb abgerissen, Türen zerstört, Stockflecken an der Wand, Einrichtungsgegenstände und herumliegender Abfall verschwimmen zu einer indifferenten und übelriechenden Müllmasse. Mittendrin, ihre Kinder. Und: Die Verwahrlosung hat nicht nur die Wohnung erreicht, sondern ebenso die in ihr lebenden Personen befallen. So sieht die selbst gewählte Unmenschlichkeit aus.
Wir wissen, dass Petra M. auch im folgenden Jahr keine 'Verschönerungsmaßnahmen' an ihrer Wohnung vorgenommen hat. Und uns - der Mark Wohnungsgesellschaft - sind auch trotz derartiger Szenen die Hände gebunden. Wir können nur auf die vereinbarten Renovierungsintervalle hinweisen, korrektes Lüften offerieren, Mülltonnen anbieten. Doch wohin der Mieter Müll und Wäsche wirft, ist und bleibt seine Sache.
Wir haben insbesondere das Jugendamt mehrfach auf die Wohnzustände der Kinder von Petra M. hingewiesen. Die Behörde hat kein besonderes Interesse an diesem Zustand gezeigt.
Damit ist diese Geschichte aber keineswegs beendet, es geht noch weiter, denn der Zustand der Wohnung verschlechtert sich in der Folgezeit unaufhaltsam. Aus einer ehemals sauberen Wohnung wird erst ein desaströser Wohnraum, der sich in seiner weiteren Entwicklung zu einem indiskutablen Drecksloch mausert. Kakerlaken krabbelten an den Wänden entlang und zerstörten nicht nur die Basis menschlicher Wohnzivilisation, sondern ruinierten die gesamte Atmosphäre im Haus und letztlich in der gesamten Straße. Mieter sind ausgezogen, andere haben eine berechtigte Mietminderung verlangt. Wir haben dieser Minderung stattgegeben.
Nun die Rechnung: Durch Mietverluste, leere Wohnungen oder reduzierte Mieten haben wir im Laufe der Jahre einen finanziellen Schaden von etwa 20.000 Euro erfahren. Dazu kommen noch einmal etwa 10.000 Euro Renovierungskosten die anfallen, als Petra M. am 30.11.2002 - von heute auf morgen - ihr gänzlich zerstörtes Wohnloch verlässt. Aus den Augen - aus dem Sinn. Macht 30.000 Euro Verlust, nicht eingerechnet sind Imageverlust und gemindertes Wohngefühl, negative Mund-zu-Mund-Propaganda und die enorme Arbeitszeit der Mitarbeiter, die sich mit diesem Thema beschäftigten. Dass die Wohnung nun frei zur desinfizierenden Sanierung ist, erfahren wir auch nicht von Petra M. selbst. Die plötzlich ausbleibenden Mietzahlungen des Sozialamtes lassen uns aufhorchen und verraten allerorts Aufbruchstimmung.
Kein Einzelfall. Das Kapitel Petra M. ist das jährlich wiederkehrendes Phänomen einer zunehmenden gesellschaftlichen Selbstaufgabe und Verrohung. Warum tun sich Menschen das an? Wie gering ist das Selbstwertgefühl, die Selbstachtung, der Wille, menschenwürdig zu existieren? Die Psychologin Jutta Pfeiffer meint dazu: "Diese Form des Vegitierens ist zwar keiner Erkrankung zuzuschreiben, dennoch glaube ich, dass es hier möglicherwiese um eine Form der Depressivität und des fehlenden Antriebs handelt. Eine innere Leere. Vielleicht spielt auch Alkoholismus eine Rolle." Tatsasche ist, dass es nicht einen Grund für die unwürdigen Lebensumstände gibt, es ist ein Geflecht vieler Auslöser, die zu einem derart extremen Bild menschlicher Verwahrlosung führen.
Unter der 'normalen' Hemmschwelle ist noch viel Platz. Wir müssen damit leben.

 

Züruck